Unter dem Link:

http://homosexualitaet-familien.de/wissenschaft_comingout.html

finden ihr folgenden Text vom LSVD:

Wissenschaft | Studie zum späten Coming-Out

Ein Coming-Out kann in jedem Lebensalter auftreten und ist nicht selten. Papa gesteht sich und der Familie ein, dass er schon immer Männer liebte, Mamas Freundin entwickelt sich zu ihrer großen Liebe. Allerdings gibt es nur wenig Information darüber, wie das sogenannte „Späte Coming-Out“ in der betroffenen Familie verarbeitet wird. Im deutschsprachigen Raum gibt es bislang nur eine einzige systematische Studie, die sich diesem Thema widmet: Sie wurde 2013 von Prof. Dr. Melanie C. Steffens und Dr. Janine Dieckmann  von der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Auftrag des LSVD durchgeführt. 

Schwerpunkt dieser Studie sind die Umgangsweisen von Angehörigen mit dem Späten Coming-Out eines homo- oder bisexuellen Familienmitglieds. Die Fragestellung war: Wie gehen Partnerinnen und Partner, Eltern und Schwiegereltern, Geschwister und Kinder mit dem Coming-Out eines erwachsenen Angehörigen um?
Am meisten beteiligt haben sich an der - nicht repräsentativen - Befragung Kinder von Spätgeouteten, ehemalige Partnerinnen und Partner und Geschwister, aber auch Eltern. Auffällig an der Zusammensetzung der Befragten ist die geringe Beteiligung von Männern. Die Gruppe der Väter war besonders klein und wird daher in der Studie nicht gesondert erfasst.

Hinsichtlich der ersten Reaktionen und im heutigen Umgang gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Angehörigengruppen und zwischen den Geschlechtern. Verglichen mit anderen Angehörigen, die tendenziell eher akzeptierend reagierten, war für Partnerinnen und Partner das Späte Coming-Out ihrer Lebensgefährten meist sehr schwierig. Sie stimmten daher am häufigsten der Aussage zu „Mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen“, empfanden ein größeres Informationsdefizit und haben auch am häufigsten Selbsthilfegruppen oder professionelle Hilfe gesucht. 

 

Dazu gibt es die PDF-Datei als Download

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Viele von uns kennen das: Coming-Out auf dem Land. In den Dörfern kennt jeder jeden. Ob man will oder nicht, man muss mit den Dorfbewohnern auskommen. Das macht ein Coming-Out auch in Niedersachen nicht gerade leichter.

 

In der TAZ gab es am 25.10.2014 einen Artikel von Lena Müssigmann, der genau zu diesem Thema passt. Zwar spielt die Geschichte nicht in Norddeutschland, sondern im Süden der Republik, aber es hätte sich hier genau so zutragen können.

 

Mit freundlicher Genehmigung von Lena Müssigmann aus Mühlingen (Schwaben) und des Einsatzes der TAZ-Redaktion kann hier dieser Artikel eröffentlichet werden.

 

Hier ist noch der Link zu dem Original-Arikel:

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ln&dig=2014%2F10%2F25%2Fa0039&cHash=4f1f7442af9f6517d52d25e8ad49773f 

Das zweite Leben des Andreas Deyer

 

DORF Vorm Gesetz werden Schwule und Lesben immer gleicher. Aber manchmal kommt die Gesellschaft nicht ganz mit, nicht nur in Baden-Württemberg. Wie ein Landwirt am Bodensee seine Familie herausfordert
 

Der Bauer vom Altschorenhof sieht die Leute tuscheln, als er mit seiner Frau das Zelt betritt. Das Nachbardorf feiert Musikfest. "Schau, das sind die Eltern vom Andreas Deyer!", raunen die Leut'. Der Bauer hört das nicht, aber er spürt's. Eigentlich ist man hier in Süddeutschland auf dem Land immer nur "der Sohn von". So lange bis die Eltern nicht mehr da sind. Jetzt ist plötzlich alles andersherum. "Die Eltern vom Andreas Deyer."

 

Andreas Deyer ist 45 Jahre alt und Bauer wie sein Vater, wie der Großvater und der Urgroßvater. Der Altschorenhof liegt in den Wiesen und Äckern zwischen Bodensee und Schwäbischer Alb, im Landkreis Konstanz. Die Familie bewirtschaftet ihn seit 115 Jahren. Es waren gute Jahre dabei, in denen die Ernte reich war. Und schlechte, in denen das Wetter zu nass, der Mais zu klein oder die Kühe krank waren. Aber das, was immer gleich gewesen war, blieb gleich: Auf dem Anwesen mit dem Ahornbaum in der Mitte wohnt ein Bauer mit seiner Frau und seinen Kindern.

Dann, vor fast zehn Jahren, erzählt Andreas Deyer, dass er schwul ist. Erst seiner Frau, später der Mutter, die sagt es dem Vater, auch der Bruder, ein Jahr jünger, erfährt es. Die Familie ist gezwungen, über ihre Vorstellung von dem, was immer gleich bleiben muss, nachzudenken.

 

"Das kann doch nicht sein", hatte die Mutter zunächst gesagt. "Das darf niemand erfahren", der Vater.

 

Er hatte gute Chancen bei Mädchen, sagt die Mutter

 

Der Altschorenhof befindet sich weit außerhalb des Dorfes Mühlingen. An der Einfahrt blühen bunte Blumen. Hier leben rund 140 Kühe und 180 Rinder, 30 Gänse und 20 Puten, 2 Pfauen und die Hofhündin Lotte. Auf 150 Hektar Land wächst Gras, die Familie baut Mais und Getreide an. Die beiden Wohnhäuser stehen sich gegenüber, das alte Haus bewohnt Andreas, das neuere bewohnen seine Eltern.

 

An diesem diesigen Herbstmorgen läuft Andreas Deyer zwischen den Kühen durch den Stall und schaufelt den Mist aus dem Stroh. Die Melkmaschine surrt. Deyer ist ein großer Mann, einen Meter zweiundachtzig. Er trägt bei der Arbeit einen Overall, Gummistiefel und eine Mütze. "Sonst erkälte ich mich so schnell", sagt er. Er spricht Alemannisch. Man hört ihm an, wie nah die Schweiz hier ist.

Die Nachricht, dass der Andreas vom Altschorenhof schwul ist, geht damals zügig durchs Dorf. Er ist bekannt - er spielt Saxofon im Musikverein, ist im Ortsvorstand des Bauernverbands, Hofnachfolger.

 

Der alte Bauer will die Nachricht am liebsten aufhalten.

 

Es ist 2005, das Bundesverfassungsgericht hat gerade ein Urteil gefällt, das Schwulen und Lesben erlaubt, leibliche Kinder des Lebenspartners zu adoptieren. Die größten politischen Kämpfe der deutschen Lesben- und Schwulenbewegung liegen schon ein paar Jahre zurück. Die Gleichberechtigung von Homosexuellen in Deutschland scheint fast am Ziel.

 

Vor dem Gesetz jedenfalls.

 

Im Jahr 2014 dann demonstrieren in Baden-Württemberg Tausende dagegen, dass sexuelle Vielfalt in den Lehrplan aufgenommen wird, mit Schildern auf denen "Schützt die Kinder!" steht. Immer noch lebt nur ein Bruchteil schwuler Lehrer geoutet. Ein Ex-Fußballer, der sich zu seiner Homosexualität bekennt, wird auf Zeitungstiteln als Held gefeiert. Weil das so selten ist.

 

Vor allem auf dem Land braucht es jetzt die nächste Revolution, damit Schwulsein oder Lesbischsein als etwas Alltägliches begriffen wird. Nur, wer kämpft sie aus? Vielleicht, auf ihre Art, auch Eltern wie die von Andreas Deyer.

 

In seiner Jugend auf dem Dorf und in der Landwirtschaftsschule hatte Deyer nur heterosexuelle Vorbilder. Zu den nächsten Schwulenbars fährt man mit dem Auto eine Dreiviertelstunde. Er kannte niemanden, der offen schwul lebte. Das Leben, das er sich wünschte, war den Leuten in seinem Umfeld fremd.

 

Er will heute deswegen nicht jeden, der ablehnend reagiert, konservativ nennen. "Damit macht man es den Leuten zu einfach." Er will, dass man sich mit Homosexualität beschäftigen muss, bevor man sich eine Meinung bildet. "Man sollte sehen: Das gibt's im Verein, im Betrieb, im Dorf", sagt Deyer. Was er nach seinem Coming-out erlebt, zeigt ja, dass auf dem Land Dinge in Bewegung geraten können, auch wenn sie ihre Zeit brauchen.

 

"Er hat immer gute Chancen gehabt bei den Mädchen", sagt die Mutter. "Früher ist er viel auf den Tanz gegangen."

 

Als junger Mann findet Andreas Deyer eine Freundin, sie heiraten im Sommer 2000. Beide verdienen gut, sie fliegen zwei Mal im Jahr in Urlaub und fahren ein Cabrio. Ein hübsches Paar. Doch er kommt nicht zur Ruhe.

 

"Jungs fand ich schon in der Schule interessanter als Mädchen. Aber ich hab's verdrängt", sagt er heute. Erst nach seiner Hochzeit wird ihm bewusst, dass er etwas anderes will. Deyer surft heimlich durch Dating-Portale. Er verabredet sich mit Männern.

 

"Ich hab ein Doppelleben geführt und dachte: Das geht schon. Aber irgendwann dreht sich die Spirale immer schneller. Ich hab' gespürt, das macht mich kaputt", erinnert er sich.

 

Deyer sorgt dafür, dass seine Frau es merkt. Er lässt die Fenster des Internetbrowsers am PC offen, damit sie die Dating-Portale entdeckt. Das ist fast fünf Jahre nach der Hochzeit.

 

Sie spricht ihn darauf an. Sie weint, ist verletzt. Anschließend reden sie die ganze Nacht und suchen nach Lösungen, die sie nicht finden.

 

Beim Melken im Stall am nächsten Morgen weiht Andreas Deyer seine Mutter ein. Dass er sich von seiner Frau trenne, sagt er. Weil er schwul sei.

 

Marianne Deyer ist 65 Jahre alt, eine kleine, kräftige Frau mit kurzen Haaren. Sie steht in der Küche und kocht das Mittagessen für ihre Männer und die Azubis, die sich mittags alle bei ihr versammeln. Auf dem Herd brutzeln Fleischküchle. Über der Eckbank in der Küche hängt der Meisterbrief des Vaters und eine Luftaufnahme des Hofs.

 

Wenn Marianne Deyer nervös ist, knipst sie mit den Nägeln. Wenn sie von damals erzählt, knipst sie oft.

 

Nach acht Tagen wussten es alle, sagt der Vater

 

An diesem Morgen im Stall weiß sie sich nicht anders zu helfen, als einfach weiterzuarbeiten. Ihren Mann lässt sie ein paar Tage an eine Ehekrise des Sohns glauben. Irgendwann muss sie ihm den wahren Grund nennen.

 

Auf dem Hof löst das Coming-out erst einmal lautes Schweigen aus. Vater und Sohn arbeiten nebeneinander her. Beim Frühstück und Mittagessen in der Küche der Eltern sitzen zwar alle zusammen. Sie klären aber nur das Nötigste.

 

Ein halbes Jahr lang hält Andreas die Spannungen aus. Dann stellt er die Eltern vor die Wahl. An einem Abend im Frühsommer schreibt er sich ein Konzept, damit er nichts vergisst von dem, was er sich zurechtgelegt hat. Dann geht er über den Hof, vorbei am großen Ahornbaum in der Mitte, hinüber zum Haus der Eltern. Er rutscht auf seinen Platz auf der Eckbank, an den runden, hellen Küchentisch. Der Vater sitzt ihm gegenüber.

 

Die Eltern müssten sich, sagt er, Gedanken machen, ob sie so mit ihm arbeiten und leben können: "Sich das Leben gegenseitig schwer zu machen, belastet mich zu sehr." Falls sie ihn als schwulen Sohn nicht akzeptieren können, will er einen Schritt gehen, den keiner der Hofnachfolger vor ihm je getan hat: Er würde den Altschorenhof schon vor seinem Tod verlassen.

 

Der alte Bauer war vor etlichen Jahren einmal mit seiner Frau in Berlin gewesen. Zufällig waren sie dort an der Straßenparade zum Christopher Street Day vorbeigekommen.

 

"Da haben wir Sachen gesehen, da würden Sie heute noch rot werden", sagt er. "Für uns war das ein Großstadtding. Wir haben ein paar Leute gekannt, die das haben. Und plötzlich ist es im eigenen Haus."

 

Erwin Deyer blickt etwas mürrisch unter seinem braunen Cordhut hervor, die Unterlippe hat er immer leicht nach vorn geschoben. Er steht breitbeinig am offenen Scheunentor des Kuhstalls, der Trecker parkt davor, er tuckert noch, Deyer hat kaum Zeit. Viel zu tun, wie immer. Er trägt ein rotes T-Shirt, die Arme hat er vor dem grünen Hosenlatz verschränkt.

 

"Es hat grad noch gefehlt, dass ein Artikel im Südkurier kommt. Nach acht Tagen wussten es alle", sagt Erwin Deyer. Vor bald 67 Jahren ist er auf dem Altschorenhof geboren. Zum ersten Mal in der langen Tradition der Bauernfamilie schert einer aus. Sein Sohn. Eine Schmach.

 

Die Leute reden. Nicht nur beim Musikfest.

 

Marianne Deyer hat mal beim Programm "Pfundsfit" mitgemacht. Abnehmen. Da muss man einmal die Woche walken. Eine Bekannte sprach sie an: "Wie kannst du am helllichten Tag laufen gehen? Was denken da die Leut'?" Hat die keine Arbeit? Es war ihr damals schon recht egal.

 

Als sich die Sache mit Andreas herumgesprochen hat, ruft eine Verwandte an: "Die Leute sind vom Teufel gemacht. Die machen Vergewaltigungen." Marianne Deyer hat irgendwann einfach aufgelegt.

 

Die Eltern haben Angst, dass die Kunden im Hofladen wegbleiben. Andreas selbst weiß nicht, ob er noch Azubis findet. Als er einer Jugendgruppe erlaubt, am Waldrand auf einer seiner Wiesen zu zelten, unken ein paar Leute: "Da geht der Andy bestimmt jeden Abend hoch - Frischfleisch!"

 

In den schwierigen Monaten nach dem Coming-out liest Andreas Deyer. Die Bibel. Das hilft nicht wirklich. Er sucht weiter und findet einen guten Psychologen - "der Erste, der mich verstand". Bei seinen Bekannten hat er eher das Gefühl, sie hoffen, es handle sich um einen Irrtum.

 

Er muss sich jetzt fragen, ob er geht oder bleibt. Kann sich das Dorf verändern? Können es seine Eltern?

 

"Ich hab' jahrelang gebraucht, um zu mir zu stehen. Auch meine Eltern brauchten Zeit dafür", sagt er jetzt. Auch für sie war es eine Art Coming-out.

 

Es ist die Mutter, die irgendwann merkt, dass gerade alles auf dem Spiel steht. Sie redet auf ihren Mann ein und erzählt ihm, wie positiv sich der Andreas verändert hat. Ruhiger ist er geworden, fährt nicht mehr so schnell aus der Haut. Er wirkt glücklicher. Und man muss doch glücklich sein im Leben, wozu lebt man denn sonst.

Als sie zusammen in der Küche sitzen, signalisieren die Eltern, dass sie wollen, dass er bleibt.

 

Marianne Deyer sagt: "Ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich ihm gesagt hätte: Geh weg, wir können das alles nicht brauchen auf dem Hof."

 

Der Vater sagt: "Ich habe es akzeptiert. Sonst hätte man ja den Sohn verloren."

 

Andreas Deyer hat seinen Eltern die Wahl gelassen. Der Vater hat eine Entscheidung getroffen - für den Sohn. Und für den Hof, dem er damit noch ein paar Jahre mehr schenkt, bevor es mangels Nachwuchs wohl vorbei sein wird. Andreas hat ihm damit die Entscheidungshoheit zurückgegeben. Sein Vater darf wieder Regisseur sein in diesem Stück auf dem Altschorenhof, in dem er sich zum Statisten degradiert gefühlt hat. "Ich hab' mein Bild schon wahnsinnig ändern müssen", sagt der Vater heute. "Das ist ja nicht heilbar so was. Das war uns klar. Das ist keine Krankheit, das ist ein Zustand, oder? Eine Hormonsache", sagt er. Über Homosexualität zu sprechen, dafür muss er sich noch immer überwinden. "Hätten Sie mich im ersten halben Jahr gefragt, wär mir das arg schwergefallen."

 

Eltern Homosexueller auf dem Land hätten eine besondere Macht, sagen die Sprecher von schwul-lesbischen Organisationen und Verbänden, die für Akzeptanz kämpfen. Im besten Fall werden sie zu neuen Regenbogenbotschaftern im Dorf. Und oft, sagen Vertreter schwul-lesbischer Elterngruppen, seien es die Mütter, die fragen, die verstehen wollen, versöhnen.

 

Manche gehen weiter als Marianne Deyer und setzen sich an die Spitze einer neuen, stillen Homo-Bewegung, die langsam auch auf Höfe am Bodensee vordringt, in Gebiete, die von Traditionen geprägt sind, von Erbregelungen. Traudl Fuchs beispielsweise. Eine Frau, die mit entschiedener Ruhe und starkem Schwäbisch im Fernsehen aufgetreten ist, als Baden-Württemberg über Schwule und Lesben und Lehrpläne stritt. Fuchs, Mutter einer lesbischen Tochter, hat sich mit den Leuten von der Kirche angelegt und blöde Kommentare zu Homosexualität abgebügelt. Doch genauso wie Deyers Mutter brauchte sie Zeit, um in diese Rolle zu finden. Das Coming-out ihrer Tochter liegt fast zwanzig Jahre zurück.

 

Andreas Deyer hat einen Freund, seit dreieinhalb Jahren. Der Freund arbeitet bei der Bundeswehr. Am Wochenende wohnt er mit Deyer auf dem Hof. Oft sind auch schwule Freunde irgendwo aus Deutschland zu Besuch. Im großen Bauernhaus ist genug Platz. Morgens sitzen sie mit Andreas bei den Eltern am Frühstückstisch. Es gibt selbstgekochte Marmelade und dicke Scheiben vom frischen Bauernbrot. Sie besprechen, was es am Tag zu tun gibt. Oder wohin die Gäste einen Ausflug machen könnten. Deyers Besucher gehen tagsüber an den Bodensee und Deyer in den Stall. Der Vater sagt: "Das sind 95 Prozent tolle Typen. Du kannst dich gut unterhalten. Ich denk' halt immer: Da gehen so viele tolle Männer den Frauen verloren."

 

Auch die Mutter sagt, sie müsse immer noch umdenken. "In unserer Erziehung hieß es, dass das nicht richtig ist." Ihre Enkelin sei einmal aus dem Kindergarten nach Hause gekommen: "Oma, die haben mir im Kindergarten nicht geglaubt, dass auch zwei Männer heiraten können." Marianne Deyer lacht. Vielleicht ersehnt sie sich die Selbstverständlichkeit der Enkelin. "Die wachsen so damit auf."

 

"Ich glaube nicht, dass das Land so konservativ ist, wie es oft dargestellt wird", sagt Andreas Deyer. "Aber die Berührungspunkte mit Schwulen oder Lesben fehlen." Er hat sie geschaffen. Für seine Bekannten. Und am intensivsten für seine Eltern. Man muss die Ängste abbauen, wenn etwas vorangehen soll, sagt er.

 

Es gibt die Ebene der rechtlichen Gleichstellung und die der gesellschaftlichen Akzeptanz. Viele Leute in den schwul-lesbischen Verbänden auf dem Land sagen: Wir haben jetzt Toleranz, was uns fehlt ist Akzeptanz.

 

Die Deyers sagen, sei seien noch nie in der Situation gewesen, dass sie ihren Sohn verteidigen mussten. "Wer negativ über uns denkt, spricht uns wahrscheinlich gar nicht erst an", glaubt Marianne Deyer.

 

Ihr Mann sagt: "Wir sprechen offen über das Thema in unserem Freundeskreis." Dann korrigiert er sich: "Na ja, eigentlich sprechen wir nicht drüber. Eigentlich ist das Thema vom Tisch, seitdem alle es wissen."

 

Den Kampf für seine Freiheit hat ihr Sohn allein geführt. Der Vater spürt, dass einige im Dorf den Andreas für seinen Mut bewundern und dass man ihn akzeptiert. Er wirkt, als sei er inzwischen auch ein bisschen stolz.

 

Gut, dass der Andreas damals so in die Offensive gegangen ist, sagt er.

 

Traudl Fuchs, die Frau, die in Diskussionsrunden für ihre lesbische Tochter sprach, hat ihren Mut über zwei Jahrzehnte hinweg entwickelt. Vorangegangen ist die Tochter, die inzwischen eine Frau und Familie hat.

 

Andreas Deyer genießt sein neues Leben. Wenn er weggeht, trägt er hautenges Latex. So fährt er nach Zürich oder Konstanz. 2013 wird er zum Mister RubClub gekürt, von einem Verein für den Gummifetisch. "Das findet man, wenn man googelt. Meine Nachbarn wissen das", sagt er. Manchmal komme die Mutter zu ihm in die Wohnung. "Da kann es auch mal sein, dass solche Klamotten hier herumliegen." Er verstellt sich nicht mehr, um Rücksicht zu nehmen. Auch wenn manche ihm raten, er solle seinen Eltern nicht zu viel zumuten.

 

Obwohl er mit seinem Freund schon länger zusammen ist, sind Kinder für Deyer kein Thema. Er arbeitet viel, wenn er mal frei hat, steigt er aufs Motorrad. Am Wochenende geht er gerne aus. "Kinder würden mich in meinem jetzigen Leben arg einschränken", sagt er.

 

Er beschäftigt sich viel damit, wie er sich beruflich absichern kann, auch fürs Alter. Er hätte gerne einen neuen Stall gebaut. Aber den muss er über zwanzig Jahre kalkulieren, sagt er. Dann wäre er selbst schon 65, fast so alt wie sein Vater jetzt. Und ohne Unterstützung. Normalerweise zahlen Hofnachfolger dem alten Landwirt einen Altenteil - ohne Nachfolger bleibt ihm nur eine magere Rente.

 

Andreas Deyer, der sonst ein stiller Schaffer ist, hat sich laut geoutet. In seinem Wohnzimmer hat er einen Baden-Württemberg-Ableger des Netzwerks Gayfarmer gegründet, ein Zusammenschluss von Lesben und Schwulen, die Landwirte oder Gärtner sind. Sie verstehen sich auch als Bündnis für mehr Akzeptanz auf dem Land.

 

"Viele Homosexuelle sind auf dem Land nicht zurechtgekommen und in die Stadt gezogen. Sie geben dem Land die Schuld. Es liegt aber an beiden", sagt Andreas Deyer. Wenn es nicht mehr um das Abstrakte geht, ums Schwulsein an sich, um all die Klischees, sondern um den konkreten Fall, der dann ja kein Fall mehr ist, sondern einfach ein Mensch: Andreas Deyer - dann reagiere kaum jemand homophob. So hat er das erlebt.

 

Von Berlin, von Hamburg oder München aus betrachtet mag es wie eine Selbstverständlichkeit wirken. Aber Andreas Deyers Eltern haben ein Zeichen gesetzt. Sie leben weiter mit ihm auf dem Hof.

 

Falls er einmal verkaufen will, frage er zuerst die Kinder seines Bruders. Das hat er den Eltern versprochen. Der Bruder wohnt mit seiner Familie im Dorf. Er hat einen anderen Job, weil er es nicht mag, so viel mit Tieren zu arbeiten. "Vielleicht sind die Enkel in zwanzig Jahren froh, einen Hof zu haben", sagt die Mutter.

 

Der Vater sagt: "Ich häng' schon ein bisschen mehr am Hof als er. Ich hoff', dass es mal jemand übernimmt." So wie er ihn vom Vater übernommen hat und der vom Großvater.

 

"Wünsche und Realität sind halt zweierlei", sagt Erwin Deyer.

 

Der Vater steht vor dem Kuhstall, der Trecker tuckert immer noch, gleich will er aufs Feld. Er verschränkt die Hände vorm Körper und gibt seinem Bauch unter der Latzhose den Platz, den er braucht. Die Fliegen surren um die Kühe, die aus dem Stall gekommen sind. Kuhschwänze flappen gegen dicke Leiber.

 

Er wisse jetzt, sagt er, dass auch andere Väter schwule Söhne haben. Sogar im Dorf. Er lächelt kurz. "Mehr als man denkt."

 

 

Lena Müssigmann, 28, ist taz-Korrespondentin in Baden-Württemberg. Sie ist in einem schwäbischen Dorf groß geworden

Nur allzu oft vergessen wir, dass nicht nur wir Spät-Outler die Klippen des Lebens umschiffen müssen. Viele heute ältere Schwule haben da noch ganz andere Zeiten mitgemacht. Zeiten in denen Homosexualität noch unter Strafe stand . . .

 

Hier ist ein Artikel von Christina Römer aus der WAZ vom 12.06.2014

 

Der Link dazu:

http://www.derwesten.de/staedte/dortmund/der-lange-weg-zum-coming-out-id6756541.html 

Der lange Weg zum Coming-Out

Über Jahrzehnte musste sich Jochen Fischer verstecken – sich und seine Gefühle. Denn Fischer ist schwul. In seiner Jugendzeit musste sich der heute 74-Jährige verleugnen. „Wäre ich in einer anderen Zeit aufgewachsen, wäre mein Leben anders verlaufen“, ist der Dortmunder überzeugt.

 

Sein stärkster Gegner war er selbst. Er kämpfte gegen Angst und Scham. Gegen eine Moral, die einzwängte und verurteilte – die auch in seinem Kopf festsaß. Und die ihn viele Jahre daran hinderte, zu leben. „Ich hatte das Gefühl, ich wäre verkehrt in dieser Welt“, sagt der 74-Jährige. Dabei ist Jochen Fischer einfach nur schwul.

 

„Wäre ich in einer anderen Zeit aufgewachsen, wäre mein Leben anders verlaufen“, ist der Dortmunder überzeugt. Als er endlich auf Gleichgesinnte traf – sich endlich aufgehoben fühlte – hatte er bereits viele Jahre verloren.

 

„In der Schulzeit war ich ganz schrecklich verliebt in einen Klassenkameraden“, erinnert sich Fischer an die erste Liebe. Äußerlich schien die beiden eine enge Jungsfreundschaft zu verbinden – doch zwischen ihnen passierte mehr. „Für den anderen war das eine Schülerkalberei“, glaubt Jochen Fischer. So richtig bewusst war er sich aber auch selbst nicht, was diese Zuneigung eigentlich bedeutete. „Das Wort ,schwul’ gab es für mich noch nicht“, meint er. „Als wir endlich miteinander in der Kiste gelandet waren, fiel bei mir eine Klappe. Perfekt konditioniert schoss es mir durch den Kopf: Homosexuell – kriminell – Zuchthaus!“

 

„Nicht nur einmal hab ich mich in den Schlaf geheult“

 

Als Student verliebte er sich in Freunde – und behielt seine Gefühle für sich. „Nicht nur einmal hab ich mich in den Schlaf geheult“, sagt er. Ein Mal traute er sich in ein Homosexuellenlokal. „Ich war starr vor Aufregung und Befangenheit, hab nach einem hastigen Schluck mein Bier bezahlt und bin rausgerannt.“

 

Mit 30 Jahren zog der gebürtige Paderborner nach Dortmund, der Arbeit wegen. In der großen Stadt konnte er endlich die magische Grenze überschreiten – den elektrisch geladenen Zaun durchbrechen. Bekannte brachten ihn mit einer Frau zusammen. „Wir unternahmen viel und irgendwann wollte sie mit mir über uns reden.“ – Warum nicht mehr passiere zwischen ihnen? – „Ich fühlte mich ertappt.“ Doch dann erzählte er der Freundin, wie er fühlt. Dass er sich nicht nach Frauen, sondern nach Männern umdreht. „Sie hat toll reagiert. Ich war von meiner Angst, nicht ihren Erwartungen zu entsprechen, erlöst.“

 

„Ich hatte sofort das Gefühl: Das ist es!“

 

Jochen Fischer fasste Mut: Er kaufte sich eine „St.-Pauli-Nachrichten“, ein Magazin für Sexkontakte, darunter auch schwule. Er verabredete sich. Das Treffen war zwar eine Enttäuschung, „aber was viel wichtiger war: Ich bekam Infos über die Dortmunder Subkultur!“ Nun zog Jochen Fischer los – und wollte mit über 30 nachholen, was ihm als Jugendlicher und Student entgangen war.

 

„Dabei traf ich eines Abends auf Leute vom KCR, dem gerade gegründeten Schwulenzentrum.“ Menschen mit denen er auf einer Wellenlänge lag, die Freunde wurden. „Ich hatte sofort das Gefühl: Das ist es!“

 

Nach und nach begann er sich Menschen aus seiner Vergangenheit zu öffnen. Alten Studienfreunden, die locker entgegneten: „Das war uns doch schon längst klar.“ Und Kollegen, die ebenso wenig vom Stuhl fielen. Was er sich allerdings zunächst nicht traute: Das Coming-out vor seinen Eltern. Erst ein scheinbar unbehandelbarer Hautausschlag gab den entscheidenden Ruck. „Nach sechs Wochen Klinikaufenthalt fragte mich der Arzt, ob vielleicht in meinem Inneren was quer liege.“ – Das tat es.

 

Jochen Fischer schrieb seinen Eltern einen Brief. Der Vater kam nach Dortmund – „um die Sache zu klären.“ Der Sohn sollte seine Worte zurücknehmen. Das tat Jochen Fischer nicht. Mit seinen Eltern redete er danach nicht mehr über sein Privatleben.

 

Ein Recht auf das eigene Leben

 

„Ein Freund aus dem KCR, ein Student des Westfalenkollegs , machte mir klar, ich hätte ein Recht darauf, mein Leben zu leben“, erinnert er sich dankbar an die Worte, die ihm halfen, zu sich selbst zu stehen. „Es hat trotzdem noch Jahre gedauert, bis ich nicht mehr rot wurde, wenn das Wort ,schwul’ fiel.“

 

Heute lebt Jochen Fischer mit einem langjährigen Freund zusammen. Einen Lebenspartner hat er nicht gefunden – zu spät hatte die Suche wohl begonnen. Er geht ins KCR zu „Gay and Grey“, dem Treff für „Schwule, die keine Boys mehr sein wollen“. Und er radelt mit dem schwulen Sportvereins „Aufruhr“. Die Welt hat sich mit dem 74-Jährigen weiter entwickelt. Damals in den 50ern war sie wohl die verkehrte.