Hier ist ein Artikel aus der FAZ vom 09.04.2014, geschrieben von Christian Palm aus Frankfurt.

Der Link zum Original-Artikel:

http://m.faz.net/aktuell/rhein-main/hier-darf.opa-schwul-sein-frankfurter-heime-12884965.html

 

Dieser Artikel zeigt in beeindruckender Weise auf, wie es ist, wenn man als homosexueller Mensch in ein Pflegeheim kommt, dessen Pflegepersonal auf die Bedürfnisse der Bewohner eingeht. Einfach schön . . .

 

 

Pflegeheime für Homosexuelle

Hier darf Opa endlich schwul sein

Zwei Pflegeheime des Frankfurter Verbands sind besonders tolerant gegenüber homosexuellen Senioren. Im Julie-Roger-Haus gehören auch Stripshows zum Programm. Da staunen selbst liberale Holländer.

 

Der greise Mann hat es sich auf seinem Lieblingsplatz gemütlich gemacht. Von dem roten Ledersofa aus hat er beste Sicht auf die Rezeption. Und auf den Rezeptionisten. Ein schicker Pfleger steht hinter dem Tresen und verrichtet seinen Dienst in einer Pagenuniform, als wäre das Julie-Roger-Haus kein Altersheim, sondern ein Hotel. Der Mann schaut ihm gerne zu. Er ist 73 Jahre alt und schwul. Die Pfleger wissen das, sonst weiß es fast niemand. „Warum hätte ich auch darüber reden sollen?“, fragt der Mann. Für ihn war es normal, seine Neigungen zu verstecken, nicht einmal sein Bruder habe davon gewusst. Er stammt aus einer Generation, in der Schwule noch das Strafrecht zu fürchten hatten. Sein Leben lang hat er allein gewohnt, hat viel gearbeitet und ist oft gereist. Vor kurzem ist er in das Pflegeheim in Eckenheim gezogen.

 

Bewusst hat er sich für das Julie-Roger-Haus entschieden, denn es hat sich zum Ziel gesetzt, eine besonders tolerante Grundstimmung zu schaffen. Zusammen mit dem Rehazentrum West in Rödelheim gilt es in dieser Hinsicht als vorbildlich. Gestern sind beide Häuser dafür ausgezeichnet worden. Von nun an dürfen sie mit dem „Regenbogenschlüssel“ werben, einer Plakette, die eine niederländische Organisation vergibt. Die hatte beide Häuser getestet, sich Konzepte und Richtlinien angeschaut und mit Pflegern und Bewohnern gesprochen. „Die Häuser sind weiter als viele, die wir in Holland untersucht haben“, sagt Manon Linschoten, die die Auszeichnung gestern überreichte. Das liege auch daran, dass beide Heime sich schon lange mit dem Thema beschäftigten. Der Frankfurter Verband betreibt die beiden Heime und ist der erste Träger außerhalb Hollands, der die Auszeichnung erhalten hat. „Die kleinen Dinge machen den Unterschied“, sagt Frédéric Lauscher, Leiter des Pflegevereins. 

 

Bis zu zwölf Prozent homosexuell

 

Mit der Aufnahme fängt es an. Statt nur speziell nach einem Ehemann oder einer Ehefrau zu fragen, gibt es auch die Möglichkeit, sich nach einem Lebenspartner zu erkundigen. So sollen die Bewohner gleich merken, dass die Heime offen sind für verschiedene Lebensentwürfe. Lauscher geht von einer Quote von sieben bis zwölf Prozent an homosexuellen Bewohnern aus. Sie seien die größte Minderheit in den Heimen, noch vor den Migranten, auch wenn sich nur wenige outeten. Im Julie-Roger-Haus und im Rehazentrum West leben jeweils weniger als eine Handvoll offen schwul oder lesbisch. Viele haben jahrzehntelanges Verstecken hinter sich. Wer mit seinem Partner zusammenlebte, nannte ihn offiziell seinen Betreuer oder Mitarbeiter. Für manche sei es eine Befreiung, im Julie-Roger-Haus endlich offen über ihre Sexualität reden zu können, sagt dessen Leiter Armin Blum. Neulich ist wieder jemand eingezogen, für den genau das gilt. Den Pflegern hat er sich anvertraut, ihnen aber auch das Versprechen abgenommen, seine Neigung nicht öffentlich zu machen. Aber den ein oder anderen Film könnten sie ihm doch besorgen, bat er. Können sie. Schließlich sind auch viele Mitarbeiter im Julie-Roger-Haus schwul oder lesbisch.

 

Andere Bewohner sprechen es gar nicht aus, aber die Pfleger wissen es trotzdem. Ihr Lächeln, wenn sich ausgerechnet der hübscheste Angestellte um sie kümmert, verrät sie ohnehin. Wieder andere Bewohner verlieren mit dem Gedächtnis auch die Angst davor, zu ihrer Orientierung zu stehen - Outings aus Vergesslichkeit sozusagen. Knifflig wird es für Blum, für Ilka Richter, Leiterin des Rehazentrums West, und ihre Kollegen, wenn sie den Verwandten erklären müssen, dass ihr Vater oder Opa plötzlich schwul ist. Oder ihre Mutter nun in einer Dreierbeziehung lebt. Aber auch das gehört dazu. Die Pfleger greifen nur dann ein, wenn Bewohner zu etwas gedrängt werden oder sich belästigt fühlen. „Wir sind ein offenes Haus, aber trotzdem seriös“, sagt Blum.

 

Ziel ist es, Häuser zu schaffen, denen man es vom Betreten an anmerkt, dass sie offen für die individuellen Bedürfnisse der Bewohner sind. Dazu gehört das kleine Zeichen an den beiden Eingangstüren. Das Fähnchen in den Regenbogenfarben ist Teil des Konzepts. Es hört damit aber längst nicht auf. Die Pfleger haben etwa gelernt, richtig zu reagieren, wenn ein Bewohner sie nicht nur schmachtend anblickt, sondern auch anfasst. Es geht nicht nur darum, die Wünsche homosexueller Bewohner im Blick zu haben. Blum erinnert sich an die Hundertjährige, die sich wünschte, einmal einen Stripper zu erleben. Der Heimleiter organisierte es. Anderen verschafften er und seine Kollegen letzte sexuelle Kontakte, indem sie Sexualassistenten buchten. Und dann gibt es einmal im Jahr - immer im November - die Lady’s oder Gentleman’s Night. Mal treten dann Travestiekünstler im Speisesaal auf, mal lassen Stripper ihre Hüllen fallen.

 

Nicht nur für Angehörige sind die Bilder gewöhnungsbedürftig, die zu diesen Gelegenheiten entstehen: eine ältere Dame, die einem Tänzer den Gürtel öffnet, ein nackter Mann auf dem Schoß einer Rollstuhlfahrerin. Keiner der Bewohner ist gezwungen, sich das Schauspiel anzuschauen. „Wir laden nur die ein, von denen wir glauben, dass es ihnen gefallen könnte“, sagt Blum.

 

Der Mann mit dem Ehrenplatz an der Rezeption gehört mit Sicherheit dazu. An die frühen Auftritte des Travestie-Stars Mary kann er sich noch gut erinnern. Und bei der Marine - Mensch, was es da für Männer gegeben hat. Auch Schwule? „Ja, klar!“ Bewegt hat ihn auch eine Begegnung auf einer seiner Reisen. Damals auf Papua-Neuguinea hat er einen Eingeborenen angeschaut, und der junge Mann blickte zurück. Kein Wort, nur Lächeln. Ihm ist anzumerken, dass es ihm schwerfällt, so offen über seine Neigungen zu sprechen, dass es ihm aber auch guttut. Letztlich, sagt Lauscher, profitierten aber alle Bewohner von der Offenheit, weil damit die Qualität der Pflege steige. 

 

Wie sich Schwulenfeindlichkeit anfühlt 

 

Die Heimleiter Blum und Richter können über mangelnde Nachfrage nicht klagen. Während das Rehazentrum West einen schlichten ersten Eindruck hinterlässt, ist das Julie-Roger-Haus auch äußerlich ein ungewöhnliches Pflegeheim. Der Rezeptionist im Pagen-Outfit ist nur der Anfang. Marilyn Monroe und James Dean lächeln von den Wänden, Blum legt Wert auf eine Ausstattung im Stil der dreißiger und fünfziger Jahre. Schon die Einrichtung seines Büros könnte einen Platz im Heimatmuseum finden. Schwere, dunkle Holzschränke stehen dort. Wer sich auf das verschnörkelte Sofa setzt, sinkt ein wie in Treibsand, und an der Wand hängen Stickereien aus Großmutters Zeiten. „Schön, oder?“, fragt Blum. „Geschmackssache“, dürften die meisten Besucher antworten.

 

Blum weiß aus eigener Erfahrung, wie sich Schwulenfeindlichkeit anfühlt. Eins solle er wissen, sagte ihm einmal eine Bewohnerin: Wenn er sich nicht bald eine Frau suche, werde er in der Hölle schmoren. Kurz vor ihrem Ende zeigte sie dann doch so etwas wie Altersmilde. Obwohl er so sei, wie er sei, sei er doch eigentlich ganz nett.


Artikel zum Thema spätes Coming Out aus dem Weser Kurier vom 30.07.2013:

Coming-Out mit 60 

Im Alter finden Homosexuelle schwerer Anschluss

 

Köln (dpa/tmn) – Jung, hip, gutaussehend – und homo. Ein Klischee, das vor allem in Großstädten zutrifft. Doch Homosexualität im Alterist meist nicht so verrückt und bunt. Viele ältere lesbische und schwule Senioren sind einsam. Ein Coming-Out mit 60 ist nicht einfach.

 

Peter Sibley (71) wohnt in einer Berliner WG für schwule Ältere. Er nutzt vor allem das Internet, um andere Schwule kennenzulernen

 

Es ist das Gefühl, ein Leben lang mit einer Lüge gelebt zu haben. Und nun, wo die Jahre immer weniger werden, steht die Entscheidung, endlich damit Schluss zu machen, ehrlich zu sein. So geht es vielen Menschen, die sich erst im Alter zu ihrer Homosexualität bekennen. Dieser Schritt fällt oft nicht so leicht wie in jungen Jahren - vor allem, wenn es eine Familie und Kinder gibt.

 

Ein spätes Outing hat meist nichts damit zu tun, dass jemand seine wahre Sexualität erst spät erkennt. «In der Regel ist die eigene Homosexualität schon früh bekannt, und es gibt über Jahre ein Doppelleben mit Ehe und Familie», sagt Markus Schupp, Koordinator für schwule Seniorenarbeit im Sozialwerk für Lesben und Schwule Köln. Und Marco Pulver vom Netzwerk Anders Altern der Schwulenberatung in Berlin erzählt, dass sich bis heute ein Großteil der Männer erst später im Leben oute.

Für Frauen sei der Schritt zum Coming-Out noch stärker mit Angst behaftet, auch aus geschichtlichen Gründen, erklärt Ilona Schulz, die lesbische Seniorenarbeit in Köln macht. Die Lesben, die heute alt oder etwas älter seien, hätten gelernt, sich zu verstecken. «Das ist vielen zur zweiten Haut geworden.» Im Nationalsozialismus sei das Frauenbild sehr rigide gewesen. «Den Frauen wurde eine eigene Sexualität abgesprochen. Sie sollten sich dem Mann unterordnen, Kinder bekommen und den Haushalt führen.»

 

Ein Outing wirft große Fragen auf: Wie sage ich es meinem Partner? Wie den Kindern? Und dem Freundeskreis? Auch wenn manche nach der Trennung ein Arrangement mit dem alten Partner finden, sei die Scheidung erst einmal schwierig, sagt Schupp. Frauen, die ein sehr traditionelles Rollenbild gelebt haben, fallen besonders unsanft aus dieser Rolle heraus.

 

Für die Betroffenen ist der große Befreiungsschlag häufig erst einmal eine Enttäuschung. Viele ältere Menschen wüssten nicht, in welche Welt sie kommen, weil sie diese nur aus der Sicht des Versteckten kennen, sagt Schupp. «Sie sehen bunte CSD-Umzüge und bunte Kneipen, aber das ist kein Leben, was auf Menschen in ihrem Alter wartet.»

 

Auch für den, der schon länger offen homosexuell gelebt hat, ist das Altwerden oft schwierig. «Als junger schwuler Mann findet man ganz schnell Anschluss», sagt Pulver. «Da gibt es ein Schönheitsideal, der Kontakt bahnt sich über die Sexualität an.» Im Alter falle das weg.

 

Peter Sibley sagt von sich: «Weiß Gott, ich bin alt. Und weiß Gott, ich bin schwul.» Der 71-Jährige wohnt in Berlin im «Lebensort Vielfalt» in einer Achter-WG für pflegebedürftige ältere Schwule. Er macht nicht den Eindruck, dass er seine Persönlichkeit verstecken will. Wenn die körperliche Anziehungskraft im Alter nachlässt, müsse man sich eben auf seine anderen Talente verlassen. Für ihn sind das zum Beispiel die Schauspielerei, das Kochen und das Gärtnern.

 

Sibley ist in Schwulenforen aktiv, für ihn ist das Netz der Zugang zur Welt. «Ich finde das toll», sagt er. «Es ist überhaupt nicht so mühsam, Leute kennenzulernen wie früher, wo wir stundenlang in Bars herumsaßen und Drinks kauften, nur um einmal im Monat eine Telefonnummer zu bekommen.»

 

Der einzige Weg gegen die Einsamkeit im Alter sei die Kontaktaufnahme zu Gleichgesinnten, sagt auch Marco Pulver. In größeren Städten sei es sicher gut, Angebote für Homosexuelle zu nutzen. «Anrufen und vorbeigehen», rät er. «Es gibt Leute, die wieder richtig aufblühen.»

 

 

Erstellt im Juli 2013